Der Steckli-Donnerstag 1831


"Lassen Sie mich mit einer kurzen Geschichte aus dem Jahr 1831 beginnen. Ort der Handlung ist der ehemalige Klosterbezirk in St. Gallen, heute übrigens UNESCO-Weltkulturerbe. Nach politischen Stürmen zu Beginn der Regenerationszeit tagte im ehemaligen Prunksaal des Fürstabtes von St. Gallen der Verfassungsrat – hinter verschlossenen Türen, wie es damals üblich war. Am 13. Januar 1831 war die Nervosität im Rat vermutlich unübersehbar. Die Reden der Verfassungsräte wurden überlagert vom Gemurmel einer grossen Menschenmenge, und blickten sie durch das Fenster zum Klosterhof, so sahen sie dort 600 mit Stöcken bewaffnete Bauern aus dem St. Galler Rheintal. Dieser Tag ist deshalb als „Steckli-Donnerstag“ in die Kantonsgeschichte eingegangen. Sie waren vom Kneipenwirt Joseph Eichmüller aus Altstätten („Nagler’s-Sepp“ genannt) mobilisiert worden und forderten lautstark die Einführung von Bezirkslandsgemeinden.  

Unter dem Druck der Volksmenge kam im Rat schliesslich eine knappe Mehrheit für die Aufnahme des Gesetzesvetos in die Verfassung zustande. Die Einführung des Gesetzesvetos war damals lediglich ein Zugeständnis an die erregte Menge und an die politische Gruppierung der Demokraten, welche eine Art obligatorisches Gesetzesveto verlangt hatten. Aus der Sicht der politischen Mehrheit war es ein taktischer Schachzug zur Beruhigung der ungeduldigen Verfechter der direkten Demokratie. Heute würde man sagen: symbolische Politik. Symbolische Politik deshalb, weil die Institution des Vetos mit so hohen Hürden versehen wurde, dass das Risiko, dass je ein Gesetz am Volksveto scheitern würde, aus damaliger Sicht sehr gering war. Anton Henne, der den Vorschlag des Vetos im Verfassungsrat einbrachte, bezeichnete die Masse als unfähig, politische Entscheide zu fällen. … Und als Modell für seine Idee schob er das Veto der Volkstribunen im alten Rom vor. Damit hatte das st. gallische Veto aber nichts zu tun; Henne lehnte sich offensichtlich an Bestimmungen der Französischen Verfassung vom 24. Juni 1793 an.

Die Hürden, welche die tatsächliche Inanspruchnahme dieses neuen Volksrechtes verhindern sollten, waren die folgenden:

Die Auslösung des Vetos hatte dezentral in den Gemeinden zu erfolgen. 50 Bürger mussten verlangen, dass eine Gemeindeversammlung abgehalten werde, um zu entscheiden, ob gegen ein erlassenes Gesetz Einwendungen gemacht werden sollen. Es genügte aber nicht, dass sich an der Gemeindeversammlung die Mehrheit der anwesenden Bürger gegen das Gesetz aussprach. Die Zahl der abgegebenen Neinstimmen musste vielmehr die Mehrheit aller stimmfähigen Bürger der Gemeinde ausmachen, denn Abwesende wurden als Jastimmende deklariert (Vetoprinzip). Ein Gesetz war nur dann abgelehnt, wenn die Neinstimmen in allen Gemeinden innert 45 Tagen kantonsweit mehr als die Hälfte aller stimmfähigen Bürger ausmachten. Kam in einer Gemeinde das qualifizierte Neinmehr von 50 Prozent der Stimmberechtigten nicht zustande, zählten die abgegebenen Neinstimmen für das Kantonsvotum nicht. Heute braucht es im Kanton St. Gallen – er zählt 287.000 Stimmberechtigte – für ein Gesetzesreferendum 4.000 Unterschriften, die innert 30 Tagen zu sammeln sind.

Die demokratieskeptischen Urheber des Vetos konnten sich 1831 in Sicherheit wiegen. Realpolitisch hatten sie einen institutionellen Stolperstein aufgestellt. Sie hätten sich wohl nicht träumen lassen, dass sie damit in den Köpfen eine Bewegung in Gang setzten, die sich nicht mehr stoppen liess. Dies ein schönes Beispiel für Max Webers Aussage: "Es ist durchaus wahr und eine ... Grundtatsache aller Geschichte, dass das schliess­liche Resultat politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmässig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht." Vgl. Weber (1977), S. 53. Aus dem st. gallischen Veto wurde, ideengeschichtlich betrachtet, ein Grundstein. ... Die erste direktdemokratische Institution auf Gesetzesstufe mit individueller Zählung der Stimmen war in einem Nichtlandsgemeindekanton verwirklicht. Es erstaunt, dass trotz hoher Hürden in den folgenden 30 Jahren vier von 194 Gesetzen im Kanton St. Gallen mittels des Vetos zu Fall gebracht wurden – bei insgesamt 40 Versuchen, ein Gesetz zu bekämpfen. Die Idee griff rasch auf andere Kantone über. Basel-Landschaft berief sich 1832 bei der Einführung des Vetos auf den Kanton St. Gallen. Aus diesem Veto hat sich das moderne fakultative Gesetzesreferendum entwickelt. Die direktdemokratischen Einrichtungen, welche die Schweiz heute kennt und routinemässig anwendet, haben sich in einem jahrzehntelangen Trial- and Error-Prozess herausgebildet. Die Kantone waren dabei die „Laboratorien“.

Aus dieser kurzen Geschichte kann man schon einiges über die direkte Demokratie lernen. In ihren Anfängen ist direkte Demokratie oft symbolische Politik, „gewährt“ von oben und mit hohen Hürden versehen. Tiefere Hürden werden nicht gewährt, sondern müssen erkämpft werden. Wenn die Volksseele kocht, lassen sich auch hohe Hürden überspringen. Direkte Demokratie ist ein Instrument, welches dazu benutzt werden kann, das politische System zu verändern, insbesondere die direktdemokratischen Institutionen selbst.

Auszug aus der Einführung zu 
"Die Direkte Demokratie", September 2013, Prof. Dr. Silvano Moeckli